„Ob ich noch einmal wiederkomme? – Erinnerung an die Familie Meyerowitz“
Foto: Jens Winter
Vorurteile, Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit prägen auch heutzutage das Leben vieler Menschen mit Migrationsgeschichte – obwohl die deutsche Vergangenheit schmerzlich gezeigt hat, zu welch grausamen Verbrechen Rassismus und Stigmatisierung führen können. Vor diesem Hintergrund fand das Theaterprojekt „Ob ich noch einmal wiederkomme? – Erinnerung an die Familie Meyerowitz“ der Berliner Bündnispartner Tanz Theater Dialoge e.V., SOS Kinderdorf Berlin e.V., Karame e.V. sowie der Theodor-Heuss-Gemeinschaftsschule statt. Anhand von Originaldokumenten setzten sich die Teilnehmenden, fast alle mit eigener Migrationsgeschichte, mit Flucht und Verfolgung von antisemitisch Verfolgten während der NS-Diktatur auseinander. Konkret wurde die Lebens- und Leidensgeschichte der Leipziger Familie Meyerowitz auf Grundlage zeitgenössischer Dokumente sowie privater Überlieferungen nachvollzogen und in Beziehung gesetzt zu der eigenen Migrations- bzw. Fluchtgeschichte der Teilnehmer*innen. Die nüchterne Sprache zeitgenössischer, antisemitischer Gesetzestexte oder NS-Akten wurde den persönlichen, nahbaren Eindrücken aus Briefen sowie dem Besuch von Ausstellungen und Originalschauplätzen gegenübergestellt und ermöglichte so eine intensive Auseinandersetzung und Anteilnahme. „Dadurch wurde die Geschichte der Familie Meyerowitz weniger abstrakt, sie wurde konkret und greifbar. Das war enorm hilfreich für die Theaterarbeit“, erzählt die Projektleiterin Elisabeth Kahn. Eine besonders wertvolle Erfahrung war jedoch die Begegnung mit Rosa Marshall, einer Enkelin der Familie, die für eine Woche aus England anreiste und den Proben beiwohnte: „Beeindruckend war die Großzügigkeit, mit der sie ihre eigene Lebensgeschichte mit den Jugendlichen teilte“, beschreibt Kahn.
„Das Engagement der jungen Menschen, sogar in den Schulferien, war enorm“
„Ob ich noch einmal wiederkomme?“ – diese Frage stellte die Witwe des bereits zuvor im KZ Flossenbürg ermordeten Rechtsanwalts Martin Meyerowitz kurz vor ihrer Deportation vom Güterbahnhof Moabit. Die juristische Karriere ihres Mannes, die ihren Höhepunkt in seiner Berufung ans Leipziger Reichsgericht fand, war durch die Einführung der Nürnberger Gesetze mit der sich anschließenden Diskriminierung und Verfolgung von als „jüdisch“ eingestuften Menschen jäh beendet worden. Durch die Anbindung an die unmittelbare Wohnumgebung der Teilnehmer*innen – vom Güterbahnhof Moabit aus wurden mehr als 30.000 Menschen jüdischer Herkunft deportiert – konnte dieser Teil der deutschen Geschichte auch auf sozialräumlicher Ebene persönlich erfahrbar werden. Dies war angesichts der Bedeutsamkeit und Komplexität des Themas entscheidend für den Erfolg des Projekts. Trotz der sprachlich und emotional anspruchsvollen Projektinhalte gelang es Elisabeth Kahn zusammen mit dem Regisseur David Sutherland und allen beteiligten Erwachsenen des generationsübergreifenden Projektes, die Jugendlichen für das Projekt zu begeistern: „Das Engagement der jungen Menschen in der Auseinandersetzung mit dem Thema, sogar in den Schulferien, war enorm. Die Ernsthaftigkeit und hohe Konzentration, die sie bei allen Aufführungen unter Beweis stellten, hat uns alle beeindruckt.“ Auch die Zusammenarbeit in der Gruppe verlief harmonisch, beschreibt Kahn, „wir haben trotz des schwierigen Themas viel gelacht.“ Ein solches Projekt ist darüber hinaus auf eine verlässliche und konstruktive Zusammenarbeit im Bündnis angewiesen. „Wir konnten auf unsere Bündnispartner zählen“, betont Kahn. Sie empfiehlt, ausreichend Vorlaufzeit einzuplanen, klare Kommunikationsstrukturen zu schaffen und die Projektarbeit von Beginn an zu dokumentieren.
Bezug zur eigenen Lebenswirklichkeit
Die während der Projektarbeit zusammengetragenen Informationen und Eindrücke wurden schließlich zu einer multimedialen Theatercollage zusammengesetzt und mehrfach öffentlich präsentiert. Die Vorführungen fanden an unterschiedlichen Orten statt – neben den Räumlichkeiten der Bündnispartner dienten auch jene des Schwurgerichts Leipzig sowie des Rathauses Berlin-Schöneberg als Kulisse. Einer Aufführung in der Theoder-Heuss-Gemeinschaftsschule im Juni 2019 wohnte auch Bundesjustizministerin Christine Lambrecht bei.
Bei der Abschlusspräsentation wurden sachlich-kalte Gesetzestexte und persönliche Briefe der Familie Meyerowitz durch Licht- sowie Klanginstallationen miteinander verbunden und durch die jungen Darsteller*innen mit Leben gefüllt. Die Erkenntnisse und Erlebnisse der Projektteilnehmer*innen im Laufe ihrer Recherche übertrugen sich auch auf das Publikum, das zutiefst berührt und erschüttert zurückblieb. Neben Interessierten sowie Freunden und Angehörigen der Teilnehmenden waren auch Expert*innen vor Ort, die das Thema in einen wissenschaftlichen Kontext einordneten. Im Anschluss an die Präsentation traten die Jugendlichen mit den Zuschauer*innen in Austausch und stellten die einzelnen Projektphasen vor. Auch Rosa Marshall entsandte Grußworte und nahm dadurch Anteil an der Aufführung. Einen tollen Eindruck in das Projekt, gibt dieser Trailer mit Impressionen der Inszenierung.
Dank des Projekts erzielten die Jugendlichen erhebliche Lerneffekte auf mehreren Ebenen, die weit über die Möglichkeiten von Schulunterricht hinausgehen. Neben dem Erwerb von Sprachkompetenzen, von Schauspieltechniken und historischem Wissen traten sie auch in einen persönlichen Reflexionsprozess: „In informellen Gesprächen sowie in den moderierten Gesprächen mit den Zuschauergruppen stellten die Teilnehmer*innen einen Bezug zu aktuellen Diskriminierungserfahrungen her und wie sie sich selbst dabei fühlen.“ Solche Erkenntnisse sind von großem Wert nicht nur für das Verständnis der Vergangenheit, sondern auch des Lebens im Hier und Jetzt.
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Format: Regelmäßiges Angebot und Ferienkurs
Bündnispartner: Tanz Theater Dialoge e.V., SOS Kinderdorf Berlin e. V., Karame e. V., Theodor-Heuss-Gemeinschaftsschule
Stadt:Berlin